Quelle: Aargauer Zeitung vom 09.08.2014
Autor: Laura Barchi
Die Sommerferien neigen sich dem Ende zu und landauf, landab freuen sich Tausende von Mädchen und Knaben auf ihren Eintritt in den Kindergarten. Dort erwarten sie eine grosse Auswahl an Spielsachen, viele neue Freunde und eine Kindergärtnerin, die mit ihnen abenteuerliche Ausflüge unternimmt.
Immer öfter gehen diese nämlich mit den Kindern in den Wald. Im Gegensatz zum Turnunterricht, der klar über kantonale Vorgaben im Lehrplan geregelt ist und seinen fixen Platz im Stundenplan hat, gibt es jedoch keinen Absatz, der vorschreibt, wie oft die Kinder in den Wald geführt werden sollen.
Für Annette Rutishauser, Kindergartenlehrperson in Basel mit Zusatzausbildung als Naturpädagogin ist das ein Fehler. «Ich würde eine klare Verankerung der Waldhalbtage im Lehrplan begrüssen, da ich es jedem Kind gönne, einen halben Tag pro Woche in der Natur zu verbringen», sagt die Fachkraft.
Für die Naturpädagogin Sarah Wauquiez sind Waldhalbtage sogar nötig, damit alle Lernziele im Kindergarten erreicht werden können. Dazu gehörten etwa das differenzierte Wahrnehmen und Beschreiben jahreszeitlicher Veränderungen oder das Beobachten von Tieren und Pflanzen in ihren Lebensräumen.
Natur fördert Kreativität
Für viele Kindergärtnerinnen sind regelmässige Unterrichtseinheiten in der Natur bereits fester Bestandteil ihrer Jahresplanung. Was jedoch unter regelmässig verstanden wird, variiert je nach Lehrperson.
Während die einen wöchentlich einen Halbtag im Wald spielen, sind andere höchstens jede zweite Woche oder sogar nur einmal monatlich in der Natur anzutreffen. Wieder andere finden es sinnvoller, Blockwochen anstelle einzelner Halbtage im Wald zu verbringen, da viele Kinder sich zuerst daran gewöhnen müssten, mit nichts als der Natur zu spielen.
Gründe, die für Waldtage im Kindergarten sprechen, gibt es viele. Für die Atem- und Bewegungstherapeutin Katharina Kauffungen ist der Wald ein beruhigender Ort, an dem die Kinder in gesunder, sauberer Luft auftanken und sich regenerieren können.
«Die gut belüftete Lunge stärkt das Immunsystem, sättigt das Blut mit Sauerstoff und fördert die Konzentration. Gerade weil viele Spielplätze heutzutage zu steril sind und vorgefertigte Spielsachen aus Plastik eine sinntötende Wirkung haben, ist es so wichtig, im Wald verschiedene Materialien ertasten zu können.
Da die Natur keine klaren Spielsachen vorgibt, wird die Fantasie der Kinder angeregt.» Die Fähigkeit, kreativ zu denken, ist eine wichtige Basis, um später Lösungswege in allen möglichen Disziplinen finden zu können. Dies ist ein Grund, weshalb das Freispiel bei den meisten Kindergärtnerinnen der Hauptbestandteil jedes Waldbesuchs darstellt.
Der Wald ruft
Auch wenn Waldtage im Kindergarten kein Novum sind, wurde diese Bewegung in den letzten zehn Jahren immer mehr zum Thema. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Gerade in einer Zeit, in der oft beide Elternteile berufstätig und auch alleinerziehende Mütter keine Seltenheit mehr sind, fehlt vielen Eltern die Zeit, mit ihren Kindern wertvolle Stunden im Wald zu verbringen.
Katharina Kauffungen vermutet, dass in unserer technologisierten Welt immer mehr Menschen einen Hang zum Ursprünglichen haben, weil sie spüren, wie gut ihnen der Aufenthalt in der Natur tut. Sarah Wauquiez sieht dies ähnlich: «Die Gesellschaft hat sich in den letzten 50 Jahren stark verändert. Gewisse Menschen fühlen sich drinnen sicherer. Hinzu kommt, dass neue Spielmöglichkeiten oft elektronisch sind und in der Regel sitzend konsumiert werden. Dies ist ein Grund, weshalb sich Statistiken zu Übergewicht gehäuft und den Ruf nach mehr Bewegung in der Natur verstärkt haben, nicht zuletzt um ein besseres Körpergefühl herbeizuführen, das vor Misstritten und Unfällen schützen soll.»
Für Waldhortleiterin Vera Caspar besteht zudem ein Zusammenhang zum Schulsystem, bei dem die Kinder oft sehr lange ruhig auf ihren Stühlen sässen und die Bewegung in der Natur somit in der Schule wie auch in der Freizeit immer mehr auf der Strecke bleibe. Schliesslich tragen auch neue Forschungsergebnisse dazu bei, dass die Erziehungsdirektoren ihre Lehrpersonen dazu anhalten, der Klasse möglichst viel Bewegung zu ermöglichen, da diese sich positiv auf den Lernerfolg auswirkt.
Flair für die Natur ist wichtig
Damit die Kinder eine positive Beziehung zur Natur aufbauen können, sind regelmässige Waldhalbtage mit einer Kindergärtnerin, die der Gruppe authentisch vorleben kann, dass der Wald ein wunderbarer Lebens-, Lern- und Spielraum ist, sinnvoll und wichtig.
Lehrpersonen, die sich im Wald nicht wohlfühlen und ihn lediglich zur Pflichterfüllung mit ihrer Klasse besuchen, vermitteln dieser ein konträres Bild. Dies ist eine Gefahr, die ein Obligatorium von Waldtagen im Kindergarten mit sich bringen würde. Da nicht jeder Kindergarten direkt neben einem Wald steht, ist es für einige Kindergärtnerinnen aufwendiger, diesen oft aufzusuchen.
«Wenn der Wald zu weit vom Kindergarten weg ist, wäre es eine Möglichkeit, dass man nicht wöchentlich einen Halbtag, sondern jede zweite Woche einen ganzen Tag in den Wald fährt. Da die Kinder dann über den Mittag im Wald picknicken, kann die Zeit, die in die Reise investiert wird, wieder wettgemacht werden», schlägt Annette Rutishauser vor.
Sollte der Kanton jedoch Vorgaben machen, so sollte er auch die notwendige Infrastruktur bieten, damit alle Kindergartenlehrpersonen ein Waldhäuschen mit den wichtigsten Utensilien für die Kinder zur Verfügung hätten und die Reisekosten gedeckt würden.
(Nordwestschweiz)